Sonntag, 5. April 2015

Die zweigeteilte Betroffenheitsskala

Es fällt auf, heute in der Tageszeitung:

Da haben wir die Seite zu den Auslandsnachrichten. Ein großer, mehrspaltiger Artikel zu Obamas Kritikern und ihrer Reaktion auf den Atomdeal mit dem Iran.

Ein Dreispalter über 70.000 Gastarbeiter in Kanada, die aufgrund der dortigen Arbeitssituation vielleicht bald das Land verlassen müssen.

Ein Zweispalter immerhin noch zu Nordkoreas "großem Führer" Kim, wie er sich als Pilot feiern lässt. Kim der Unfehlbare halt.

Und ein größerer Artikel zu Premier Cameron und den anstehenden Wahlen der Briten.

Ja, und dann ist da noch der verschämte kleine, einspaltige Artikel. Er steht am linken, unteren Seitenrand, also dem Seitenteil, den erwiesenermaßen der Zeitungsleserblick am ehesten übersieht.

Dieser kleine Beitrag berichtet vom Massaker an einer kenianischen Universität. 147 tote Studenten. Christliche Studenten. Gezielt ausgewählt, denn es gbt sowohl Muslime als auch Christen an dieser Uni. Es war nicht der Amoklauf eines Irren. Es war ein Anschlag der somalischen Islamistengruppe "Al Schabaab".

Gut, nun kommen natürlich wieder jene Stimmen, die mir sagen werden "Wir können doch nicht über alle Toten auf dieser Welt in Tränen ausbrechen." Das klingt logisch. Auf den ersten Blick. Aber...

147. Fast die gleiche Opferzahl gab es beim Flugzeugabsturz der Germanwings-Maschine. Wie viele dieser Menschen kannten wir persönlich? Trotzdem hingen wir an den Lippen der Berichterstatter und Talkshow-Leute.

Kann man nicht vergleichen? Wieso nicht? Weil es hier Deutsche betrifft, und ein deutsches Flugzeug, und eine deutsche Fluglinie?

Okay, dann ein anderes Beispiel:

Der Anschlag auf den Boston Marathon 2013. 3 Tote, über 200 teils Schwerverletzte.

Kann man das vergleichen? Ja, ich denke schon.

Nur die Reaktion - die kann man nicht vergleichen. Der Boston-Anschlag dominierte die Medien tagelang. Das Mitgefühl mit den Opfern war immens. Im Westen eine Stimmung à la "Je suis Charlie". Und der Kenia-Anschlag?

Anderer Vergleich:

Stellen wir uns für einen Moment eine Schule vor, irgendwo in Deutschland, oder irgendwo in den USA, oder meinetwegen auch irgendwo in England, oder Frankreich.

Und stellen wir uns vor, eine Horde islamistischer Terroristen stürmt diese Schule und entführt 270 Mädchen. Einfach so. Man geht als sicher davon aus, dass die Mädchen zwangskonvertiert wurden, teils als Unterpfand gehalten werden, teils verkauft (!) oder verheiratet wurden.

So geschehen in Nigeria vor einem Jahr. Wäre unser angenommener "Fall" ein Jahr später ebenso in Vergessenheit geraten?

Wer erinnert sich heute noch an "#Bringbackourgirls"?

Es ist eine seltsame Zweiteilung auf dieser Welt, die nichts mit tatsächlicher Distanz zu tun hat: Da ist die eine Hälfte unserer Welt, der sogenannte "Westen", was immer das auch heißen mag. Was dort geschieht, und sei es noch so weit entfernt, löst bei uns große und nachhaltige Betroffenheit aus und regt unsere Empathie an. Gleiche oder ähnliche Ereignisse in Afrika, oder in Ländern wie Syrien, dem Irak oder meinetwegen auch Indien oder Pakistan, landen dagegen recht weit unten auf unserer Betroffenheitsskala.

Glaubt ihr nicht?

Denkt euch mal ein Fähre voller europäischer Touristen, die vom italienischen Festland aus einen Inselausflug nach Lampedusa machen. Die Fähre geht mit Mann und Maus unter.

Und nun denkt euch ein Flüchtlingsboot, das vom afrikanischen Festland aus auf dem Weg nach Lampedusa ist. Das Flüchtlingsboot geht mit Mann und Maus unter.

Die Berichterstattung zum zweiten Fall kennen wir. Die Berichterstattung zum ersten Fall können wir uns vorstellen.

Der Tod des einen ist nachrichtenträchtiger als der Tod des anderen.

Damit könnte ich leben.

Ich fürchte nur, es bedeutet gleichzeitig, dass auch das Leben des einen wertvoller angesehen wird als das Leben des anderen.

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